VON OLIVER GRISS UND ULI WAGNER (FOTO)

Der TSV 1860 am Scheideweg: Kein Geld. Kein Zusammenhalt. Keine Perspektive. In unserer Rubrik “Sechzig - wie lange noch?” wollen wir von den db24-Lesern wissen, wie sie mit dem Leid der Löwen umgehen. Seit unserem Aufruf am Donnerstagnachmittag haben uns unzählige Emails erreicht. Auch 1860-Mitglied Gernod Kraft (53) hat uns geschrieben - sein Statement:

Mich interessiert keine Turnhalle und kein Golf-Angebot. Für das dringlichste Problem halte ich die alarmierende Situation der aktuellen Drittliga-Mannschaft. Es wird wohl niemand ernsthaft behaupten wollen, dass der Kader, wie er sich im Augenblick aufgrund der Abgänge und der (Langzeit-)Verletzen präsentiert, genauso stark oder gar stärker sei als in der Vorsaison. Ein Blick auf die Transfermarktwerte macht deutlich, dass wir von den elf wertvollsten Spielern der Vorsaison gerade einmal noch zwei aufbieten können.

Ob die verbliebenen Drittligisten allesamt in der Lage und/oder gewillt sind, ihre Kader zu verstärken, kann ich nicht wirklich beurteilen. Es sprechen aber wenig Indizien dafür, dass sich die Teams tendenziell verschlechtern. Zumindest Mannschaften wie Braunschweig, Uerdingen, Haching oder auch die wiederbelebten Lauterer werden sich besser präsentieren dürfen als in der Vorsaison. Das Dumme dabei ist nur: Gegen die verbliebenen Drittliga-Teams haben die Löwen schon mit dem letztjährigen Kader schlecht ausgesehen.

*In acht Partien gegen die vier Absteiger haben die Löwen 20 (!) Punkte bei 19:7 Toren geholt. Selbst gegen die drei Aufsteiger war man nicht chancenlos (4 Punkte, bei 7:11 Toren). Im Schnitt waren dies gegen die sieben Auf- und Absteiger 1,7 Punkte. In den verbleibenden 24 Begegnungen konnten die Löwen dagegen im Schnitt noch nicht einmal einen (!) Punkt erzielen, bei einem deutlich negativen Torverhältnis. Dieser Schnitt muss aber erhöht werden, will man die Klasse halten.

Darauf, dass sich der Chemitzer FC, die Waldhöfer oder Viktoria Köln, die im Vergleich zur Fortuna deutlich finanzstärker ist, als gleichwertige „Punktelieferanten“ für die Löwen wie Cottbus, Aalen, Lotte oder die Kölner Fortuna präsentieren werden, wird wohl niemand wetten. Zumindest beim vierten Aufsteiger, dem Nachwuchs des Nachbarn, sagt - bei aller Hoffnung - die Erfahrung früherer Aufeinandertreffen leider etwas anderes. Wie es mit nur zwei Siegen und damit vier Punkten weniger in der abgelaufenen Saison ausgegangen wäre, kann sich jeder beim Blick auf die Tabelle leicht selbst ausrechnen.

Die Hoffnung auf Eigengewächse hält sich bei mir mittlerweile in Grenzen. Andere haben auch starke A-Junioren. Beispielsweise spielen Ingolstadt, Lautern, Duisburg, Münster, Viktoria, Magdeburg und Cottbus in der ersten Liga, die Chemnitzer spielen noch Relegation. Dagegen hat die U19 der Löwen den Wiederaufstieg deutlich verpasst. Hier haben wir in den letzten drei Jahren zweifelsfrei an Boden verloren und ich kann leider nicht erkennen, wie diese Lücke mittelfristig wieder geschlossen werden soll. Auch die U21 hat sich in der Bayernliga Süd höchstens durchschnittlich präsentiert und außer Dressel hat sich keiner für die erste Mannschaft aufgedrängt.

Die Situation ist gefühlt noch trostloser als nach gefühlt „ewigen“ Jahren Bayernliga in den 80ern. Die Mannschaft hat keine sportliche Perspektive, die KGaA keine wirtschaftliche in der dritten oder gar vierten Liga und wir sind temporär geduldeter Gast in einem heruntergekommenen Stadion, an dessen Vergangenheit sich viele mangels sportlichem Erfolg klammern. Jedes Jahr hängen uns mehr Teams ab, die Ihre Zukunft in die eigene Hand nehmen. Mir fällt es schwer zu akzeptieren, dass „meine Löwen“ mit Teams wie Hoffenheim, Augsburg, Heidenheim, Sandhausen oder auch Regensburg schon lange nicht mehr mithalten können (abgesehen von den immer noch zahlreich verbreiteten Sympathisanten im ganzen Land, die auch für die hohen „Auswärtsfahrer“-Zahlen sorgen). Im Gegensatz zu manch überheblichen „Fans“, die eine völlig unbegründete Selbstherrlichkeit und Arroganz diesen Vereinen gegenüber an den Tag legen, erkenne ich deren Leistung aber zumindest an. Ich muss sie deshalb ja nicht mögen.

Was mir und vielen anderen Leidgenossen abgeht, ist eine Vision der Löwen. Was möchte man erreichen, wo will man hin und wofür steht man? Erfolgreiche Unternehmen zeichnet eine solche (Unternehmens-) Vision, eine Mission und daraus abgeleitete Ziele aus, mit der dazu passenden Kommunikation. Leider erscheinen solche Maßnahmen, die die Grundlage für eine dringend benötigte Aufbruchstimmung wären, nicht in Ansätzen umsetzbar. Schlimmer noch: Ich kann keine Person erkennen, die einen solchen Prozess in die Hand nehmen könnte oder wollte.

Es gibt darauf spezialisierte Unternehmensberater, die hierbei wertvolle Unterstützung bieten können. Das ist nicht als Kritik am Präsidenten zu verstehen. Ich selbst bin seit 25 Jahren als Unternehmensberater tätig und weiß, dass man auch ein ordentlicher Berater sein kann, ohne die Themen „Vision und Mission“ im Repertoire zu haben (zumindest ein betriebswirtschaftliches Themengebiet sollte man aber gut beherrschen). Ein Berater alleine ist aber kein Allheilmittel. Im Unternehmen wie im Profifussballgeschäft braucht man unbedingt eine Person, und zwar in der obersten Führungsebene, die voll hinter diesem Weg steht. Diese Person muss alle Beteiligten - Mitarbeiter (Spieler, Trainer, alle Angestellten) ebenso wie Kunden (Sponsoren, Mitglieder und Fans) gleichermaßen auf diese Mission einschwören. Aufgrund der vorhandenen Strukturen kann dies bei den Löwen nur der Präsident des e.V. sein. Herr Reisinger hat mir während seiner Amtszeit nicht annähernd den Eindruck vermittelt, als könne oder wolle er diese Person sein. Man muss ihm hoch anrechnen, dass er sich 2017 auf dieses Himmelfahrtskommando einließ und sich vielen unwürdige oder beleidigende Anfeindungen aussetzt. Aber durch seine Aussagen (oder Schweigen) und sein Handeln (oder Abtauchen) hat er die Spaltung der Fan- und Mitgliederszene befördert wie niemand vor ihm.

Die positive Grundstimmung, die sich nach dem Absturz 2017 durch die „Jetzt-erst-recht-Haltung“ der großen Fanmenge gebildet hatte, ist inzwischen verflogen. Die Hoffnung auf Besserung (z.B. auf Transparenz), die Herr Reisinger vermittelt hatte, wurde nicht ansatzweise erfüllt. Was wir in der Regionalliga an Sympathien gewonnen haben, ist durch unmögliches Verhalten von Teilen der Fans und die in der Öffentlichkeit ausgetragenen Grabenkämpfe gegen den Mitgesellschafter inzwischen wieder verloren gegangen. Wenn dann noch der Präsident, der “seiner“ sportlichen Führung keine Rückendeckung gibt, nach dem Klassenerhalt wie 1990 Franz Beckenbauer über das Spielfeld schlendert, dann gibt er sich (wie auch im Jahr zuvor mit den bekannten Parolen) der Lächerlichkeit preis. Nicht nur mir ist das peinlich.

*Dass wir bei dem desaströsen Bild, das die Löwen in der Öffentlichkeit abgeben und für das der Präsident wesentlich mitverantwortlich ist, überhaupt noch Sponsoren finden oder halten, ist nicht selbstverständlich. Da die Zuschauereinnahmen sehr limitiert sind, ist Sponsoring unsere einzige nennenswerte Einnahmequelle. Das, was uns eine regionale Versicherung bieten kann, ist offensichtlich schon das Ende der Fahnenstange. Danke an „Die Bayerische“, auch wenn dafür (verständlicherweise) Gegenleistungen wie Mitsprache gefordert werden. Leider benötigen wir aber ein Vielfaches, um mittelfristig wieder dorthin zu kommen, wo wir lange Zeit waren und wo uns nach wie vor die meisten eigenen Anhänger und viele andere Fußballfreunde sehen möchten. Wer sich lediglich als Stadtteilverein und als Gegenpol des Kommerz-/Investoren(?)-Fußballs positionieren möchte, dem muss klar sein, dass dieser Weg in den Amateurbereich und damit in die Bedeutungslosigkeit führen wird. Die Blausterne lassen grüßen…

Als langjähriger Löwenfan, der um die Existenz seiner großen Liebe bangt, kann ich der Empfehlung des Verwaltungsrates nicht folgen und Herrn Reisinger als Präsidenten wählen. Auch wenn damit eine vermeintliche „Handlungsunfähigkeit“ drohen sollte und kein anderer Kandidat kurzfristig aus dem Hut gezaubert werden könnte: Diese Zeit werden wir auch überstehen und schlimmer als auf dem jetzt vorgezeichneten Weg kann es nicht werden.

Sollte die Mehrheit den aktuellen Kurs bestätigen, werde ich meine Mitgliedschaft nicht kündigen, auch wenn es mir schwer fiele. Einzig der Grund, dass ich dann gar keine Stimme mehr haben würde, hielte mich noch.

Zu meiner Löwen-Vita:

Geboren als der TSV 1860 amtierender Deutscher Meister war, aufgewachsen im Saarland, Löwenfan seit Kindesbeinen (dank lieber Freunde in Buch a.A., wo ich alle Sommerferien verbringen durfte), Mitglied seit dem ersten festen Einkommen, auch aus 500 km Entfernung ohne Kabelfernsehen oder Internet nicht von seiner großen Liebe abzubringen, weder durch den eigenen „roten“ Vater, durch unfähige Präsidenten, Zwangsabstiege, schmerzliche Heimniederlagen zum Geburtstag (wie die in der Nachspielzeit gegen die Fuggerstädter durch einen gewissen K.-H. Riedle), die „Täglich-grüßt-das-Murmeltier-Pleiten“ gegen die ungeliebten Bobfahrer, noch durch ständig wiederkehrende Mitleidsbekundungen von Fans sogenannter „echter“ Fußballvereine. Heute schäme ich mich dafür, dass ich überhaupt zwischen Verein und KG unterscheiden muss, „mein Verein“ im Wettbewerb zum eigenen Fanshop Fanartikel mit einem „FA“-Logo, zu dem ich überhaupt keinen Bezug finden kann, vermarktet und dass Fangruppen das Gegenteil von dem tun, als das, wofür sie vorgeben zu stehen. Doch alles dies und auch die Tatsache, dass ständiges Pyrofackeln mich davon abhält jemals wieder in der Kurve zu stehen, ändert nichts daran, dass mir nur eine einzige Fußballmannschaft wirklich am Herzen liegt und sich dies auch nicht ändern wird.

Mir hat es nichts ausgemacht, das ich als kleiner Junge von vermeintlichen Fussballkennern ausgelacht wurde. Auch den Dauerregen in der Westkurve beim entscheidenden Relegationsspiel ausgerechnet gegen Borussia Neunkirchen, die Mannschaft meines Heimatkreises, und der anschließenden Feier auf dem Marienplatz hab ich völlig verdrängt. Dafür sind bei mir Tränen geflossen, als ich im tiefsten Frankreich im DB24-Ticker vom 2:1 durch Kai Fussballgott Bülow lesen durfte; beinahe so wie bei der Radioübertragung aus Kassel, als Albert Gröber das 2:0 erzielte. Die bewegende Reportage und die Schilderung des Treffers und der anschließenden Jubelszenen werde ich immer im Ohr behalten und wenn ich daran denke, berührt es mich heute noch.

Danke allen Beteiligten für die schönen Momente. Ich möchte die Hoffnung nicht aufgeben, dass neue hinzukommen werden.

Wie sehen Sie die Löwen? Schreiben Sie uns unter redaktion@dieblaue24.de eine Mail.