VON OLIVER GRISS

Vielleicht ging’s Ihnen ähnlich: Durch Zufall bin ich am Dienstagabend beim TV-Zappen bei RTL hängen geblieben: Es lief die 70. Minute des Fußball-Länderspiels zwischen Deutschland und Kolumbien, der viermalige Weltmeister lag mit 0:1 zurück. Gewundert hat es mich nicht. Auf dem Spielfeld war ein überschaubares Niveau zu sehen, deutsche Fußballer, die mit durchschnittlichem Talent gesegnet sind - und an der Seitenlinie ein verunsicherter und nassgeschwitzter Bundestrainer Hansi Flick. Dass die athletischen und willigen Kolumbianer uns am Ende noch ein zweites Tor eingeschenkt haben - ja, mei!

0:2 gegen Kolumbien, 0:1 gegen Polen, 3:3 gegen die Ukraine - die Fußball-Nation Deutschland, die einst für großartige Erfolge, besondere Mentalität und außergewöhnliche Typen wie Lothar Matthäus oder Bastian Schweinsteiger stand, hat ein Jahr vor der EM im eigenen Land das Gewinnen verlernt. Schlimmer noch: Der deutsche Fußball ist seit einiger Zeit nur noch zweitklassig und das ist nicht nur in der Fifa-Weltrangliste abzulesen. Die DFB-Auswahl liegt auf Rang 14. Von den jüngsten 16 Länderspielen konnten wir nur vier gewonnen werden - und zwar gegen Italien, Oman, Costa Rica, Peru. Alles klar?

Für viele Teile der Presse ist Bundestrainer Hansi Flick der Hauptschuldige - doch das ist viel zu einfach gedacht: Seit vielen Jahren ist die Nationalmannschaft ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Bequem, selbstverliebt, überheblich und satt. Schließlich muss die Work-life-Balance stimmen. Der smarte Hansi ist nur ein Teil des Problems.

Den deutschen Fußball hatten früher andere (bessere) Werte ausgezeichnet - und nein, das ist nicht die Schallplatte von “Früher war alles besser”. Es ist belegbar. Die Vermarktung ist heutzutage oft besser als die eigentliche Leistung, die aktiven Fanszenen bekommen immer mehr Macht in den Klubs. Das ist eine verheerende Entwicklung, die keiner stoppt.

Die Hauptschuld für die Krise trifft den DFB mit seinen selbstverliebten Funktionären, Einflüsterern und Ja-Sagern. Sie verstecken sich hinter der glorreichen Vergangenheit anstatt dem Fußball in Deutschland die nötigen Impulse zu geben. Dem Kinderfußball die Tore wegzunehmen - nein, das ist nicht der richtige Weg. Ein Bolzplatz in den 70er oder 80er Jahren ohne Tore - einfach undenkbar. Es braucht wieder mehr Qualitätsschulung und Härte, auch in den NLZ, die von ihrem Puderzucker-Image nicht wegkommen. Die Ausbildung in den deutschen Leistungszentren ist fast nur Schema F. Es gibt keine Dribbler, aber auch keine kantigen Mittelstürmer mehr. Nein, das ist kein Zufall.

Und die liebe Bundesliga, die sich selbst maßlos überschätzt, ist natürlich auch ein großes Problem: Selbst der FC Bayern kann international nicht mehr auf Topniveau leisten - und das mag was heißen. Der Rekordmeister ist gegenüber der Premier League oder der spanischen LaLiga finanziell im Hintertreffen. Dass Super-Talente wie Erling Haaland (ManCity) oder Jude Bellingham (zuletzt Dortmund, jetzt Real Madrid) in jungen Jahren die Bundesliga verlassen, ist keine Auszeichnung für den deutschen Fußball, sondern zeigt nur eines auf: Mit den großen Fußball-Nationen können wir schon lange nicht mehr mithalten.