VON OLIVER GRISS

Ehrlich, 1860 ist für mich auch eine Art harte Lebensschule - und seit Freitag bin ich wieder um eine wertvolle Erfahrung reicher, denn aus dieser Perspektive habe ich den Klub, von dem ich seit der 70er Jahre Fan bin und 35 Jahre journalistisch begleite, noch gar nicht gesehen. Aber im Leben lernt man bekanntlich nie aus. Robert Reisinger, nun seit sieben Jahren im Amt, wurde in der "BILD"-Zeitung wie folgt zitiert: "Wenn wir jetzt loslassen, ist der Verein kaputt...Ich gebe nicht auf. Ich schlucke die Anfeindungen herunter." Reisinger ist sozusagen der beste Verteidiger, der Retter des TSV 1860, weil er die "Scherben zusammengekehrt" hat, die er in nicht unwichtiger Position (Verwaltungsrat) mit ausgelöst hatte. Chapeau für Ihre Verdienste!

Dass ein Ehrenamt ungemein Kraft kostet und es bei den Giesingern etwas rauer zugeht als bei einem normalen Verein, das war schon immer so. Auch der längst verstorbene Kult-Präsident Karl-Heinz Wildmoser musste Gemeinheiten von einer kleinen Minderheit über sich ergehen lassen (Stichwort Stadionträumer!) - und dabei hatte er im Gegensatz zu all seinen Nachfolgern auch richtig etwas vorzuweisen: Er führte die Löwen von der Bayernliga bis in die Champions League-Qualifikation, hielt den Klub zehn Jahre in der Bundesliga. Ununterbrochen. Er hatte auch nicht wenig eigenes Geld in den Klub gesteckt, viel Geld - um die Löwen vor dem Gang vor der Insolvenz zu retten. Anfang der 90er Jahre. Nachfragen von Menschen, die das möglicherweise anzweifeln, sind bestimmt bei Kult-Löwe Fredi Heiß erlaubt. Wildmoser hatte aber auch kluge Personalentscheidungen getroffen - u.a. mit Werner Lorant. Auch das ist eine Gabe.

Und was man bei Wildmoser auch wissen muss: Er hatte mit seiner Energie und seinem Netzwerk die Löwen zu einem Vorzeigeklub in ganz Deutschland gemacht. Nicht nur die Profis hob Wildmoser auf eine andere Ebene, sondern auch den Jugendbereich hatte er mit klugen Entscheidungen komplett umgekrempelt. Die Löwen boten über die Jahrtausendwende die beste Ausbildung in Deutschland an, das Duo Wolfgang Hauner und Ernst Tanner war federführend für ein kluges NLZ-Konzept.

Und Reisinger, der einst selbst Geschäftsführer in der KGaA werden wollte, aber abblitzte? Der Unternehmensberater sieht die Löwen unter seiner Regie deutlich auf Kurs. Zuletzt postete der e.V. stolz ein Video-Clip, worin sich der Mutterverein an einem neuen Mitglieder-Höchststand (26.860!), 10.000 (!) Follower auf Instagram - und das historische Vereinslokal Bamboleo erfreute. Alles schön und gut.

Nach sieben Jahren Stillstand: Muss Präsident Robert Reisinger den Weg freimachen bei 1860?

Umfrage endete am 21.06.2024 17:00 Uhr
Ja!
88% (5538)
Nein!
12% (720)

Teilnehmer: 6258

Zum Vergleich: Was schaffte Wildmoser in sieben von 12 Jahren seiner Amtszeit? Er wurde am 17. Mai 1992 Präsident und sieben Jahre später war 1860 nicht nur im Europapokal vertreten, sondern gewann nach 22 Jahren sogar wieder ein Derby gegen den FC Bayern - wohlgemerkt in der Bundesliga. Wildmoser vervierfachte die Mitgliederzahlen von 5.858 auf 22.293, Instagram gab es damals noch nicht. Er hatte zudem einen direkten Draht ins Rathaus zu OB Christian Ude - und das Löwenstüberl war eine der bekanntesten Anlaufstellen für Fans im deutschen Fußball. Herzlichkeit, Gemütlichkeit, gutes Essen - und wenn man ganz viel Glück hatte, durfte man Werner Lorant sogar beim “Expresso”-Schlürfen zuschauen. Nurmal so als Vergleich - und der Fußball boomt im Vergleich zu den 90er Jahren durch das Sommermärchen 2006 unglaublich. Ein kurzer Zahlencheck: Der FC Bayern verkündete in dieser Woche sein 350.000 Mitglied - vor der WM 2006 im eigenen Land hatten die Roten noch 121.119. Der 1. FC Nürnberg ist inzwischen stolz auf 31.402 Mitglieder. Im Jahr 2009 hatte der Klub nur rund 9.500 Mitglieder.

Sollte sich Reisinger ausschließlich als Präsident des e.V. sehen, dann ist das freilich in Ordnung. Der Profifußball im TSV 1860 ist jedoch das, was die Lager einen und das Aushängeschild der Löwen sein sollte - und genau deswegen braucht es jetzt Veränderung an der Grünwalder Straße 114. Reisinger hat sehr viel Zeit bekommen, auch von Mehrheitsgesellschafter Hasan Ismaik - immerhin sieben lange Jahre.

Doch jetzt ist Zeit für Veränderung. Mit der Mitgliederversammlung am 16. Juni kann die Löwen-Familie entscheiden, was sie will: Stagnation oder die Chance auf Verbesserung mit Menschen wie Klaus Lutz, Martin Gräfer oder Gernot Mang, die allesamt bewiesen haben, dass sie äußerst erfolgreich arbeiten können.

Die Menschlichkeit muss zurück bei 1860 - davon ist der Traditionsklub meilenweit entfernt. Frag nach bei Hans Sitzberger, Daniel Bierofka, Michael Köllner oder Marc Pfeifer. Sie sind die prominentesten Opfer. Und dass Box-Trainer Alfonso Fusco, der bei seinen Aktiven einen großen Stein im Brett hat, den amtierenden Verwaltungsrat ablehnt und seine eigene Kandidaten nennt, hat natürlich auch ein besonderen Stellenwert. Auch in anderen Abteilungen soll es gewaltig rumoren.

Lieber Herr Reisinger, gehen Sie in sich und reflektieren Sie Ihre Erfolgsstory rund um Münchens große Liebe!