Was der deutsche Fußball von der Heim-EM lernen kann
- VON OLIVER GRISS
- 17.07.2024 07:56
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VON OLIVER GRISS
In Deutschland neigt man inzwischen dazu, zu schnell zufrieden zu sein. Einerseits, um mit möglichst wenig Aufwand die eigene Bequemlichkeit auszuleben; andererseits, um im eigenen Fahrwasser seinen Status zu verteidigen. Willkommen in der neuen Work-Life-Balance-Generation, die das über Jahrzehnte erfolgreiche "Made in Germany" längst vertrieben hat.Und das ist nicht nur in der Geschäftswelt so, sondern auch längst im Leistungssport angekommen. Und so war es wenig verwunderlich, dass das unglückliche Viertelfinal-Aus gegen den späteren Europameister Spanien als Erfolg verkauft worden ist. Die Presse in Deutschland hat eindrucksvoll mitgespielt: Positive Schlagzeilen sind besser zu verkaufen - und wer weiß: Vielleicht fällt so leichter die ein oder andere Story für den jeweiligen Reporter im Kampf um die beste Schlagzeile ab.
Aber es ist sowieso immer eine Sache des Betrachters, wie die Analyse richtig ausfallen muss: Wenn der Ausgangspunkt der Herbst 2023 ist, als der viermalige Weltmeister sportlich am Boden lag, dann ist das Erreichte tatsächlich positiv zu sehen. Wenn man aber Renommee, Aufwand und Ertrag gegenüberstellt, ist das Abschneiden unter Julian Nagelsmann dann doch eher mau zu bewerten. Um vorweg zu schicken: Es liegt nicht an Nagelsmann, dass der große Coup bei der Heim-EM ausgeblieben ist, sondern am Gesamtkonzept des deutschen Fußballs.
Lothar Matthäus, der Rekord-Nationalspieler, hat die Analyse aus unserer Sicht richtig zusammengefasst: “Vielleicht waren die Erwartungen aufgrund der vergangenen Turniere nicht sehr hoch und die Leistung sieht deshalb stark aus. Ich finde aber nicht, dass ein Gastgeber wie Deutschland zufrieden sein kann, wenn er im Viertelfinale ausscheidet. Das darf nicht unser Anspruch sein. Ich tue mich schwer, die EM als starkes Turnier zu werten.” Auch Ex-Bundestrainer Berti Vogts, der mit Deutschland 1996 den letzten EM-Titel holte, bläst ins selbe Horn: “Wenn ich die Einschätzungen der Experten und Medien verfolge, fehlt es mir doch an der nötigen Kritik. Ich warne da noch mal: Wir dürfen nicht zu blauäugig mit der Situation umgehen. Wir haben zu wenig Weltklasse im deutschen Fußball, wir können mit den internationalen Topteams nicht mithalten. Nicht mit der Nationalmannschaft und auch nicht im Vereinsfußball.” Weltklasse war auch nicht das Zeitmanagement der Deutschen Bahn, die es wieder einmal schaffte im EM-Zeitraum mit großer Unpünktlichkeit im gesamten Schienenverkehr zu glänzen. Der österreichische “Standard” schrieb wenig vorteilhaft: “Viele Fans staunten, dass in Deutschland, dem Land der Effizienz und Ingenieurskunst, die Bahn so anfällig für Pannen ist.”
Aber: Man konnte sich mit der deutschen Nationalmannschaft wieder identifizieren. Ein Sommermärchen war’s aber nicht. Dennoch hatte die EM im eigenen Land trotz einiger Flitzer, dem Wolfsgruß der Türken und den unsäglichen Pfeifkonzerten gegen Spaniens EM-Helden Marc Cucurella (die Bild-Zeitung nennt ihn Hand-Spanier!) auch durchaus Positives zu bieten, was der deutsche Fußball auch für den Liga-Betrieb unbedingt mitnehmen sollte: Das Stadion-Erlebnis war ein völlig anderes als in der Bundesliga oder der Dritten Liga - eines ohne Hass und bis auf wenige Ausnahmen politische Botschaften. Das ist der Fußball, wie wir ihn uns wünschen - der Sport, die Empathie für seinen Gegner und das Miteinander sollten bei aller Rivalität immer im Mittelpunkt stehen. Fußball kann so schön sein, wenn jedes einzelne Spiel als Fest gesehen wird. Dazu gehört aber auch, dass sich die aktiven Fanszenen in Deutschland eingestehen müssen, dass sie nicht für alle Anhänger sprechen, sondern nur für einen Teil. Der Fußball sind wir alle.