VON OLIVER GRISS UND BERND FEIL (FOTO)

Über das Interview von Ober-Löwe Robert Reisinger in der “BILD”-Zeitung wird beim TSV 1860 wahrscheinlich noch länger zu reden sein. Prinzipiell ist es positiv, dass Reisinger endlich aus der Deckung kommt und eine (allerdings vorhersehbare) Fehlentwicklung anspricht - und trotzdem steckt das Interview mit dem Springer-Verlag voller Widersprüche: Einerseits kritisiert Reisinger die sportliche Kommandobrücke um Günther Gorenzel und Michael Köllner aufs Schärfste (“Die Verantwortlichen müssen sich hinterfragen, ob man Fehler in der Kader-Zusammenstellung gemacht hat”); anderseits spricht er ihnen weiterhin das uneingeschränke Vertrauen aus: “Auch wenn ich mich wiederhole: Bei mir rollen keine Köpfe. Wir müssen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Ich bin fest davon überzeugt, dass beide den richtigen Weg in der Zukunft finden.” Hart übersetzt: Ihr könnt Euren Job nicht - ihr dürft aber trotzdem weitermachen!

Würde in einem Dax-Konzern der Aufsichtsratsvorsitzende des Unternehmens so eine Aussage in die Öffentlichkeit streuen, würde nicht nur der Aktienkurs fallen, sondern auch die potentiellen Nachfolger der leitenden Angestellten bereits im Vorzimmer der Geschäftsführung Kaffee und Kuchen serviert bekommen, um längst die neue Strategie des Hauses zu besprechen. Und wie wir aus der Vergangenheit wissen, haben Reisingers Worte kein langes Haltbarkeitsdatum. Als Reisinger kurz nach dem desaströsen 2:5 gegen Magdeburg im Dezember sagte, dass es unter ihm “kein Köpferollen” gebe, wurde mit Aufstiegsheld Sascha Mölders DER Spieler des Jahres 2021 rasiert.

Und wäre Reisinger ehrlich zu sich selbst, müsste er sich auch selbst kritisieren. Denn die Faktenlage zeigt ganz deutlich auf, dass es dem Unternehmensberater aus Kirchheim bis heute nicht gelungen ist, den TSV 1860 in den knapp fünf Jahren seiner Amtszeit so aufzustellen, wie es dieser imposante Traditionsverein eigentlich verdient hat. Auch Reisinger muss sich - wie Michael Köllner und Günther Gorenzel - hinterfragen, ob er wirklich alles für den Erfolg getan hat. Der Stillstand an der Grünwalder Straße ist Fakt. Der TSV steht schon wieder am Scheideweg.

Solange der TSV 1860 aber nicht an seine eingefahrenen Strukturen rangeht - und weiterhin eine Phobie gegen “Ehemalige” hat, wird der Klub nicht mehr im höherklassigen Fußball angreifen können. Die Fehlentwicklung, die sich schon länger abzeichnet, hätte verhindert werden können, würde man in den Gremien auch auf Fußball-Kompetenz setzen und auf dieser Ebene endlich auch Experten Gehör schenken. Im Fußball gibt es leider viele Schulterklopfer - besonders bei 1860. Kritiker werden als Nestbeschmutzer abgestraft, schließlich ist das Giesinger “Lebensgefühl” viel wichtiger.

Dabei ist die Fehlerliste an der Grünwalder Straße lang: Ungenügendes Scouting, viele Transferflops, fehlende Hierarchie im Kader, Überbewertung der eigenen NLZ-Spieler, unverhältnismässig hohe Gehälter für sogenannte Schlüsselspieler, ständige sportliche Fehleinschätzung der Kaderqualität (“Wir sind voll wettbewerbsfähig”), keine Transfererlöse in den letzten Jahren - und die vielen falschen Analysen und Prognosen angesichts von Platz 4 im Vorjahr. Hier muss dringend ein Umdenken stattfinden.

Beide Gesellschafter dürfen sich angesprochen fühlen, ob sie so weitermachen wollen - wobei es natürlich in erster Linie die Kernaufgabe des Vereins ist, ein attraktives Umfeld zu schaffen, um 1860 für Fans, Sponsoren und auch weitere Investoren lohnenswert zu machen. Es ist die Aufgabe von Reisinger. Nur wenn der Präsident bereit ist, seinen eingeschlagenen Weg zu verlassen, hat der Löwe eine Perspektive.

Was mittlerweile keiner mehr abstreiten kann: Der Konsolidierungskurs von Reisinger ist - welch Wunder - krachend gescheitert. Oder will Reisinger noch 78 Jahre weitermachen?

Oliver Griss (50) begleitet den TSV 1860 seit der Saison 1989/1990 journalistisch - und betreibt seit 2011 das Online-Magazin dieblaue24.de.