VON OLIVER GRISS

Sagen wir mal so: Die Vibes an der Grünwalder Straße 114 waren schon mal besser. Ob deswegen mein 54 Jahre alter Elfer bei Temperaturen um die 30 Grad zuletzt zeitweise nicht mehr angesprungen ist, kann ich nicht beurteilen - und so musste ich den ADAC kontaktieren. Nach knapp einer Stunde meldete sich ein gelber Engel und kündigte sein Kommen an: “Hier Wildmoser, ich bin in einer Viertelstunde da!” Wildmoser? Ein Zeichen?

Ein gelber Engel namens Wildmoser kommt zu Sechzig - mehr Wunden aufreißen geht eigentlich gar nicht für einen, der sich seit 35 Jahren intensiv mit 1860 München beschäftigt. Dabei hat der ADAC-Wildmoser mit dem Löwen-Idol Wildmoser überhaupt nichts zu tun, wie sich kurze Zeit später herausstellt hat. Er verriet: “Ich bin nicht verwandt mit dem Fußballer Wildmoser. Ich habe ihn aber einmal kennengelernt, als ich in Hinterbrühl zum Essen war. Er hat jeden Tisch begrüßt - auch bei uns hat er sich vorgestellt. Ein griabiger Typ.” Fußballer war Wildmoser nicht, dafür ein Unikat.

Und griabig ist bei 1860 schon lange nichts mehr. Es wird mehr geschwätzt als zielgerichtet gearbeitet. Es wäre zu schön, wenn bei den Löwen wieder ein Mann der Kategorie Wildmoser einstiegen würde, um den herunter gewirtschafteten Traditionsklub, der mit null Punkten aus den ersten drei Spielen in die Drittliga-Saison gestartet ist, wieder zum Leben zu erwecken.

So schnell wie Wildmoser gekommen ist, war er nach der kurzen Starthilfe wieder weg - und so war der Minuten-Traum schnell geplatzt und ich musste mich wieder der Aktualität stellen. Und die Aktualität ist nur schwer genießbar. Sechzig ist momentan sowieso nicht zu verstehen.

Bei den Löwen geht’s nach vier Niederlagen in fünf Spielen ans Eingemachte: Klappt die Wende auf der Bielefelder Alm nicht, würde sich die Krise weiter verschärfen. Weil Agis Giannikis das schwächste Glied in der Kette ist, wird sich der 44-Jährige vermutlich kaum noch retten können. Jedoch ist es bei 1860 nicht damit getan, nur den Trainer auszutauschen und dann zu glauben, alles funktioniert wieder. Diese Logik ist nichts anderes als von seinen eigenen schwerwiegenden Fehlern abzulenken.

Der TSV 1860 ist ein komplexes Gebilde, das man verstehen und vor allem auch 24 Stunden am Tag leben muss. Souveränität, Erfahrung, Profil und auch Widerstandsfähigkeit sind wichtige Bausteine - ein Versuchslabor sollte die Grünwalder Straße 114 nicht sein, in dem immer wieder Spitzenkräfte “eingepflanzt” werden, die der Sache nicht gewachsen sind. 1860 ist kein normaler Fußballverein, sondern eine Berufung, die eine große Verantwortung mit sich bringt. Der Fan will Ergebnisse sehen - und keinen Schlüsselloch-Report und Geschichten aus dem Paulaner-Garten.

Es ist schon sehr auffällig, dass 1860 in den letzten Jahren wie ein schlechtes nicht ausgegorenes Strategiespiel am Atari 800 geführt wird. Robert Reisinger & friends haben dank ihres Wahlvolks den Joystick in der Hand, wissen aber wenig damit anzufangen - weil die Löwen prinzipiell eine große Nummer sind. Eine viel zu große Nummer. Aber das ist nichts Neues.

1860 sollte für Qualität, Erfolg, Miteinander, Familie, Nestwärme, Leidenschaft - und Rivalität zum FC Bayern stehen. Doch die Bayern kennt man bei 1860 nur noch aus dem Fernsehen oder von den alten Geschichten an den Münchner Stammtischen.

Dass dies so schnell nicht wieder anders wird, liegt auch daran, dass sich viele Fans über die Jahre “einseifen” haben lassen und nicht von ihrem Stimmrecht Gebrauch gemacht haben. So hart es auch klingt: Der Weg, den der TSV 1860 geht, war selbst gewählt. Eigentlich kann jetzt nur noch der blaue Engel helfen.